Wenn Kinder nachts aufwachen, zehrt das an den Nerven der Eltern. Eine Ärztin hat mehr als 2000 Familien
besucht. Sie gibt Tipps, wie Babys lernen, was auch Erwachsenen schwerfällt: zur Ruhe zu kommen
von Jasmin Siebert, Süddeutsche Zeitung 26. August 2017
Tagsüber ist er ein unkompliziertes und fröhliches Kind. Er schaut gerne Bilderbücher an und kann mit seinen 19 Monaten schon recht klar sagen, was er will. Nur mit dem Schlafen klappt es nicht so recht. In einer guten Nacht wacht er nur zweimal auf. In einer schlechten Nacht ruft
er immer wieder nach seinen Eltern und kann ab fünf Uhr gar nicht mehr schlafen.
Die meisten Nächte sind schlechte Nächte.
So schlecht, dass Daniela Dotzauer kommen musste. Die 52-Jährige ist Ärztin und ausgebildete Eltern-, Säuglings- und Kleinkindberaterin. Vor sieben Jahren hat sie sich auf die Probleme der Nacht spezialisiert und damit einen Nerv getroffen: Mehr als 2000 Familien im Münchner Raum hat sie seither zu Hause besucht. Viele weitere übermüdete Eltern warten auf ihren Rat.
Familien wie diese im Münchner Osten: Vater Martin kocht Kaffee und serviert Mandelstrudel, während Mutter Sophie erzählt, wie Henri abends ins Bett gebracht wird: Er krabble selbst in sein Gitterbettchen, das im eigenen Zimmer nebenan steht. Doch wenn er im Bett liegt, hält er
den Oberarm seiner Mutter fest, kneift auch mal zu. „Das macht mich wahnsinnig“, sagt die Mutter. Und es hält Henri vom Schlafen ab. Dotzauer kennt dieses Festhalten und Zwicken des „Mamaarms“. Es ist ein typisches Relikt aus der Babyzeit, ähnlich wie Haare zupfen, Ohren kneten oder
„ärmeln“, erklärt sie.
Die Ärztin hat schon die verrücktesten Spleens erlebt: Kinder, die nur einschlafen, wenn sie auf Papas nacktem Oberkörperliegen und dessen Brustwarzen drehen, oder Mütter, die ihre Haare wie Rapunzel übers Kinderbett hängen, weil die Kinder nur mit den Haaren der Mutter in der Hand einschlafen. Ein anderes Kind musste mit zwei Jahren zum Einschlafen noch immer an Mamas kleinem Finger saugen und sagte dann auch „Mama Finger ab bitte“. Dotzauer verordnete eine Puppe, deren Arm in etwa so dick war wie Mamas kleiner Finger.
Die Eltern, die zu Dotzauer kommen, haben diese Rituale oft über Wochen und Monate mitgemacht. Manchen von ihnen fehlte ohne Hilfe von außen die Kraft, etwas zu ändern. Vielen Eltern aber fehlt auch das Vertrauen, dass Kinder das überhaupt können: alleine einschlafen. „Eltern von Kindern, die schlecht schlafen, haben oft selbst Schlafprobleme“, sagt Dotzauer. Es fällt ihnen dann um so schwerer, das Kind alleine in seinem Zimmer liegen zu lassen.
Schlaf, das wird schnell klar, ist nicht nur ein Problem der Kinder. Es ist auch ein Problem der Erwachsenen. 80 Prozent der Arbeitnehmer wälzen sich laut einer Studie der Krankenkasse DAK nachts unruhig in ihren Betten. Fast die Hälfte ist deshalb im Job müde.
Müde ist auch diese Familie: Während ihr Sohn Henri fröhlich Kuchen mampft, beschreibt der Vater, wie die letzte Nacht ablief: Abends brauchte Henri 45 Minuten, bis er einschlief. Nachts weinte er erst 20 Minuten lang und saß dann mindestens 45 Minuten lang wach im Bett und unterhielt sich mit Papa über die Züge, die hinter der Wohnung vorbeifahren.
„Das muss man jetzt mal festhalten: Henri schläft echt schlecht ein“, sagt Dotzauer schließlich. Es sei an der Zeit, dass das Kind eine eigene
Einschlafstrategie lerne.
Denn um schlafen zu können, muss ein Kind nicht nur müde, sondern auch schlafbereit sein. Das ist ein Kernsatz der Ärztin, der für Eltern wie für Kinder gilt: Wer schlafen will, muss runterkommen, muss loslassen und sich dem Schlaf überlassen können; muss im besten Fall auch tagsüber
schon mal durchatmen. Denn Tag und Nacht gehören zusammen. Wer den Tag zu voll packt, wird am Abend nicht gleich Ruhe finden. In einer Gesellschaft, in der uns das Handy bis auf den Nachtisch verfolgt, fällt es schwer, diesen Rat umzusetzen – gerade den Erwachsenen. Aber zur
Ruhe kommen lässt sich lernen.
Manche Eltern haben selbst Schlafprobleme.
Ihnen fehlt dann das Vertrauen, dass Kinder das überhaupt können: alleine einschlafen.
DANIELA DOTZAUER,
ÄRZTIN UND ELTERNBERATERIN
Für Kinder empfiehlt Dotzauer eine klare Abendroutine: ein frühes Abendessen gefolgt von einer intensiven Spielzeit mit den Eltern, dann Badezeit, Bilderbuchzeit und am Ende Kuschelzeit. „Ich bin erst um fünf zu Hause“, sagt Martin, und es klingt fast entschuldigend. „Was, so früh?“, entgegnet Dotzauer. In den meisten Familien, mit denen sie zu tun hat, kommt der Vater viel später nach Hause – oft so spät, dass er sein Kind nur am Wochenende wach sieht. Die Familie dagegen isst um 18 Uhr gemeinsam Abendessen. Danach dürfe ruhig noch einmal getobt werden, empfiehlt Dotzauer. Doch sobald Henri den Schlafanzug anhat, sollte es ruhiger werden. Bücher anschauen helfe beim Runterkommen. Dann geht es ins Kinderzimmer, das abgedunkelt wird. Dotzauer erklärt, wie für sie eine gute Kuschelzeit aussieht: Das Kind erhält ungeteilte Aufmerksamkeit, darf mit Vater oder Mutter kuscheln und gemeinsam den Tag durchsprechen. Dabei sollte es nur um Schönes gehen, sodass der Geist langsam ruhig wird.
Dotzauer hat beobachtet, dass Kinder zwar oft maximal gefördert werden, sich die Eltern aber wenig Gedanken ums Gegenteil machen. „Ruhe und Entspannung sind nicht gottgegeben“, sagt Dotzauer. Die Familie dagegen macht in den Augen Daniela Dotzauers eigentlich schon fast alles richtig. Doch ein wichtiges Element der Dotzauer’schen Einschlafstrategie fehlte bisher noch: ein Kuscheltier, das tröstet
und beim Einschlafen hilft. Nach dem ersten Telefonat mit Dotzauer eine Woche zuvor durfte sich Henri in einem Spielzeugladen eines aussuchen. Seine Wahl fiel auf einen gelben Papagei mit blauen Flügeln. Als er hört, dass die Erwachsenen über ihn sprechen, holt Henri seinen Pa’gei, wie er ihn nennt, aus dem Kinderzimmer. „Kann man mit dem Pa’gei auch schmusen“, fragt Dotzauer. „Nein“, sagt Henri und wirft sein
Kuscheltier weg. Seine Mama nimmt das Plüschtier und macht ei, ei. Derweil erklärt Dotzauer, dass nun die richtige Zeit sei, um ein Kuscheltier zu etablieren. Henri sollte lernen, dass der Papagei ihn tröstet und ihm – viel besser als Mamas Arm, der ja nicht immer da ist – beim Einschlafen hilft.
Dotzauer befürwortet Schnuller und Schnuffeltuch schon bei Babys ab sechs Monaten. Es sei normal, dass die Kleinen alle zwei Stunden aufwachen. Doch könnten sie mit einer „selbststeuerbaren Einschlafhilfe“ ohne Hilfe der Eltern weiterschlafen.
Ein Tipp, den Dotzauer Eltern auch immer wieder gibt: Schnuller nicht in den Mund stecken, sondern dem Kind in die Hand legen. So lernt das Kind, sich selbst zu helfen. All ihre Tricks funktionieren aber nur, wenn keine tieferen Probleme hinter den Schlafproblemen liegen, räumt Dotzauer ein. Einmal beriet sie eine Familie, in der das zweijähriges Kind von einer Nanny aus der Krippe abgeholt wurde. Die Mutter
kam um sieben nach Hause, der Vater noch später, und um acht sollte das Kind schon schlafen. Nachts wurde das Kind dann ständig wach und schlief nur mit Flasche und Streicheln im Ehebett wieder ein. Dotzauer erklärte den Eltern dann, dass es eine überzogene Vorstellung sei zu glauben, dass ein Kind nach nur einer Stunde Zeit mit der Mutter schon ins Bett geht. Die Familie mit den beiden voll berufstätigen Eltern schaffte sich dann ein Familienbett an, damit Eltern und Kinder wenigstens nachts beisammen sind.
Generell befürwortet Dotzauer eher das eigene Bett und schaut sich nun auch an, wo Henri schläft. Es gibt inzwischen in vielen Städten Schreiambulanzen, die Eltern helfen, wenn Kinder schlecht schlafen. In München bietet das etwa das Klinikum Großhadern an. Dort hat Dotzauer fünf Jahre gearbeitet, ehe sie sich als Beraterin selbständig gemacht hat. Die Beraterinnen in der Klinik kommen jedoch nicht wie Dotzauer nach Hause. Und legen sich auch nicht auf die Matratze vor Henris Gitterbett, auf der sonst die Eltern sitzen, liegen und hoffen, dass Henri bald einschläft. Trotz ihres kurzen Rocks legt sich Dotzauer selbst vors Bett und zwar so, dass ihr Rücken die Öffnung zwischen den Gitterstäben verdeckt und Henri nicht mehr herausklettern könnte. Sie erklärt nun den Prozess des „Eltern Ausschleichens“ in kleinen Schritten: wegschauen, wegdrehen, wegrücken, weggehen. „Wie hört sich das für Sie an?“, fragt Dotzauer. „Nach Arbeit, aber nicht unmöglich“, antwortet Sophie.
„Geborgenheit ist ein innerer Ort. Es sollte nicht der Oberarm der Mutter sein“, sagt Dotzauer. Die Eltern hören ihr aufmerksam zu, wie sie beschreibt, wie sich die Eltern Tag für Tag beim Einschlafen ein Stückchen weiter von Henri entfernen sollten. Der letzte Schritt ist weggehen, die Eltern sollten jedoch nicht einfach im Off verschwinden, sondern einer Tätigkeit vor der angelehnten Tür nachgehen, bügeln zum
Beispiel. Wenn Henri ruft, sollten die Eltern ihm antworten: „Alles gut. Nimm den Papagei.“ Weil die Eltern nicht so recht überzeugt wirken, sagt Dotzauer: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten noch zwei Kinder. Dann könnten Sie sich den Luxus, eine Stundelang beim Einschlafen dabei zu bleiben, nicht leisten.“ Sie erklärt, dass, wer alleine einschlafen kann, nicht einsam ist, sondern selbständig. Sie doziert fast, als sie weiter über Entwicklungsphasen spricht, die Mutter schreibt mit, und der Vater sagt lachend: „Gut, dann fangen wir jetzt an zu bügeln.“ Dotzauer macht den Eltern noch einmal Mut, ehe sie sich verabschiedet: „Henri ist so gut entwickelt und clever. Er kann alles lernen. Man muss es ihm nur beibringen.“
Nach einer Woche ruft Martin sie an und berichtet, dass Henri nun nach zehn Minuten friedlich in seinem Kinderbett einschlafe –mit seinem Pa’gei im Arm.